Ayeda Alavie Verbrannte Generation
Meine Generation nennt sich verbrannt. Denn die Islamische Revolution hat unser Leben von Grund auf zerstört. Seit der Ermordung von Jina Mahsa Amini schreiben wir uns von überall auf der Welt via Social Media. Seit Mahsas Ermordung vergeht kein Tag, an dem wir nicht über die Folgen der Islamischen Revolution diskutieren. Denn in unseren Augen wäre Mahsa in einem Iran ohne Islamische Revolution noch am Leben. Die systematische Entrechtung der Frauen im Iran hat erst 1979 mit der islamischenRevolution begonnen.
Meine Generation und die darauffolgenden Generationen haben nichts mit der Revolution von 1979 zu tun gehabt, dennoch müssen wir unser ganzes Leben wegen ihr büßen. Die damaligen Revolutionäre waren gegen Imperialismus, Kapitalismus, Materialismus und für Islam oder Kommunismus. Deswegen wollten sie die Monarchie stürzen. In ihrer Ideologie waren Islam und Marx heiliger als das Land Iran. Sie wünschten sich eine islamisch-marxistische Regierung, die gar keine Beziehung mehr zu den USA und Israel pflegte. Deswegen wurden gleich nach der Revolution die Botschaften der USA und Israels in Teheran besetzt. Die intellektuellen Studierenden und bewaffneten Revolutionäre nahmen 52 US-Diplomaten als Geiseln. Sie wollten damit die Auslieferung von Schah Mohammad Reza Pahlavi erpressen. Danach wurden zahlreiche Antirevolutionäre, Hochoffiziere und unschuldige Menschen, die in der Schah-Zeit ein Amt innegehabt hatten, hingerichtet. Diese Opfer hatten weder Anwälte noch genug Zeit, sich selbst zu verteidigen.
Und das haben alle mitbekommen: Gleich nach dem Sieg der Islamischen Revolution hat die Weltgemeinschaft gesehen, dass die Revolutionäre sich mit Gewalt, Geiselnahmen, Hinrichtungen und Terror durchsetzten. Dennoch hat die Welt seit 44 Jahren mit diesem Terror-Regime verhandelt.
Das zieht sich bis in die heutige Zeit: Die Weltgemeinschaft hat voriges Jahr viele Videos gesehen, die beweisen, wie brutal und wie unmenschlich gegen die unbewaffneten Demonstranten nach Mahsa Aminis Ermordung vorgegangen wurde. Die Welt hat vor 4 Jahren sehr wohl mitbekommen, dass im November 2019 über 1500 Demonstranten, die vor allem aus wirtschaftlichen Gründen protestiert hatten, ermordet wurden. Dennoch haben die Politiker aus aller Welt weiter die Hände der Mullahs geschüttelt. Die Welt hat ihre Augen vor den Menschenrechtsverletzungen im Iran geschlossen. Die Welt! Dieselbe Welt, die 1979 Khomeini unterstützte und mit Hilfe der inneren politischen Unruhen im Iran den Schah von Persien stürzte. Seitdem gibt es keine Ruhe mehr im Nahen Osten mit Menschenrechtsverletzungen, Krieg und wachsendem Terrorismus. Die Gelder aus dem Ölverkauf, die eigentlich zum Aufbau Irans und für Irans Bevölkerung verwendet werden müssten, werden in die Hamas in Gaza und Westjordanland, die Hisbollah in Libanon, die Huthi in Jemen und weiteren terroristischen Gruppen in der Region investiert. Während es im Iran keine Mittelschicht mehr gibt, viele Menschen sich aus Verzweiflung und Armut das Leben nehmen oder ihre Organe verkaufen, investiert das menschfeindliche, iran-feindliche Regime in Teheran alle Ressourcen in die Verbreitung von Angst und Terror im Nahen Osten. Und die Politiker aus aller Welt verhandeln weiter mit diesem Regime.
Während wir, die Bevölkerung Irans, unter den Folgen der Islamischen Revolution leiden, leben hingegen viele der Revolutionäre, die zur damaligen Zeit gegen den Imperialismus und Kapitalismus kämpften, seit 1979 mit ihrer Familie in den USA oder anderen kapitalistischen Ländern. Und jene, die noch im Iran leben, gehören jetzt zu den reichsten und mächtigsten Menschen Irans. Wir verlangen eine offizielle Stellungnahme dieser Revolutionäre der 70er-Jahre, die unser Leben und unsere Zukunft durch ihre unnötige und hinterhältige Revolution zerstört haben. Vor allem die Länder, die in 70er-Jahren Khomeini unterstützten und unüberlegt den Schah stürzten, sollten jetzt endlich der Bevölkerung Irans bei ihrer jetzigen Revolution gegen das Mullah Regime helfen.
Seit Mahsas Ermordung schreiben wir uns: Anonym auf Social Media, innerhalb und außerhalb Irans. Es fühlt sich an wie eine virtuelle Selbsthilfegruppe, die aus Millionen Menschen besteht. Menschen mit einem einzigen gemeinsamen Leid und einem gemeinsamen Wunsch.
Wir trauern um Mahsa Amini, Hadis Najafi, Nika Schakarami, Sarina Esmailzadeh, Khodanur Lagai, um die hunderten getöteten Menschen in Zahedan, die ohne Geburtsurkunde und somit ohne Rechte auf ein normales Leben lebten. Um den 10-jährigen Kian Pirfalak, der Gott einen neuen Namen schenkte, indem er „im Namen des Regenbogengottes“ sprach. Um die hingerichteten jungen Männer, um die 1500 ermordeten Menschen bei den November-Protesten 2019. Um Navid Afkari, Pouya Bakhtiari, Sattar Beheschti, Neda Agha Soltan, um Armita Geravand. Die Namensliste ist lang und sie wird immer länger, wenn wir nichts dagegen tun.
Wir trauen um das nicht gelebte Leben unserer Generation. Wir trauen um Menschen, die echt sind. Wir wünschen uns ein menschenwürdiges Leben. Ein normales, einfaches, freies Leben. Ein Leben für das Leben auf der Erde und nicht für eine Idee, wie die intellektuellen Revolutionäre der 70er Jahre. Die jetzige Revolution im Iran hat menschliche Ziele. Ist bodenständig. Weder Gott noch Ideologien werden von den mutigen Menschen auf den Straßen gepriesen, weder Marx noch Lenin.
Mahsa Aminis Name ist und bleibt der Code unserer Revolution. Die Revolutionsparolen wie „Nach Mahsa hängt alles an einem Haar“ twittern und retwittern wir tausende Male. Wir zeigen weltweit unseren Protest mit dem Hashtag:
#Mahsa_Amini
#مهسا_امینی
Bis jetzt haben wir mindestens hundert Millionen Mal geschrieben: Mahsa_Amini.
Wir Frauen suchen in verbotenen alten Büchern und Dokumenten nach unserer neueren Geschichte, die in den manipulierten Büchern nicht zu finden ist. Wir stellen fest, dass es die ganze Bewegung: „Frau, Leben, Freiheit“ nicht hätte geben müssen, wenn die Rechte nicht zerstört worden wären, die uns Frauen Irans schon vor über 60 Jahre durch die „Weiße Revolution“ zugesprochen worden
waren: Das Wahlrecht, Scheidungsrecht, Abtreibungsrecht und viele weitere wertvolle Rechte. Würdevoll wurden wir als Frauen in der damaligen Zeit behandelt. Diese wertvollen Rechte nahmen uns aber die Revolutionäre 1979 weg. Die Islamische Revolution hat uns noch zusätzlich entrechtet, indem Khomeini uns sogar das alte Recht auf freie Wahlen raubte und sogar das Recht auf freie Kleidung, bei der man das Kopftuch nach eigenem Willen tragen konnte oder eben nicht. „Was hat uns eure islamische Revolution gebracht?“, fragen wir die damaligen Revolutionäre, die in ihren Büchern und Reden immer noch versuchen, ihre Islamische Revolution zu rechtfertigen. So herrscht zur Zeit parallel zum Kampf gegen das Regime auch ein Kampf der Generationen unter uns.
Und wir sollten die älteren Generationen nicht fragen „Was hat uns eure islamische Revolution gebracht?“, sondern vielmehr „Was hat uns eure islamische Revolution überhaupt übrig gelassen?“
Währenddessen wütet die Unmenschlichkeit des Regimes weiter: Anstatt Blumenkränze bekommen unsere Sportler den Galgenstrick um den Hals. Sportler wie Navid Afkari, Seyed Mohammad Hosseini und viele andere. Das Leid wächst ins Unvorstellbare. Immer hinterhältiger werden die Methoden: Aus den Bastani-Mihan-Lastwägen, die normalerweise Eiscreme transportieren, stürmen maskierte bewaffnete Männer. Sie schießen auf die Demonstranten oder zerren die Verletzten in den Eiscreme-Wagen. Dieses Verbrechen werden wie viele andere mit den Handys gefilmt und ins Netz gestellt. Krankenwägen fahren durch die Menge und aus ihnen springen Vermummte heraus. Verletzten lassen sich nicht mehr im Krankenhaus behandeln, denn sogar dort werden sie von Vermummten entführt.
Im staatlichen Fernsehen wird behauptet, dass es sich bei den Vermummten um „Scheinpolizisten“ handelt. Das ist bittere Ironie: Soweit ich mich erinnern kann, war die Polizei immer eine Scheinpolizei. Die Polizei war zur Abschreckung, zu Kidnapping und zur Folter da. Seit der Islamischen Revolution war alles nur Schein: Ein Schein-Leben. Eine Schein-Heimat. Ein Schein Gott. Nur der Tot war kein Schein-Tot. Unabhängig von der Uhrzeit leben wir in einer stetigen, grausamen Nacht. Wie in einem Horrorfilm mit maskierten Mördern. Dieser Horror soll endlich aufhören.
Wenn ich für die Getöteten Scholezard koche, denke ich an die hunderten Opfern der Mahsa Revolution. An die hingerichteten Menschen wie Seyed Mohammad Hosseini. Er hatte keine Familie ersten Grades, die nach seiner Hinrichtung seinen Körper beerdigte. Bis zum Schluss hatte auch er wie alle anderen Hingerichteten daran erinnert, dass er unschuldig ist. Dennoch wurde auch er wegen „Führen eines Krieges gegen Gott“ hingerichtet. Ich koche für seinen Seelenfrieden diese persische, süße, gelbe Speise, die aus Reis, Wasser, Zucker, Safran und Pistazien besteht. Seine Seele soll diese Speise spüren. Nach seiner Hinrichtung sind wir alle zu seiner Familie „ersten Grades“ geworden. Iran ist seine Familie "ersten Grades". Die fertige Speise verteile ich in verschiedene Schüssel und schreibe darauf mit Zimt die Namen der Getöteten. Vor der Islamischen Revolution haben die Menschen im Iran die Namen der Heiligen auf die süße Speise geschrieben: Imame, die niemand von uns je gesehen hatte. Jetzt schreiben wir die Namen der Menschen, die wir kennen. Menschen, die mutig für ein freies, menschenwürdiges Leben in Iran ihr eigenes Leben riskieren.
#Mahsa_Amini